Europawahl: Wegweiser in die Zukunft

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Die Wahl zum Europäischen Parlament am 23. Mai im Vereinigten Königreich wurde von vielen als eine Art zweites Probe-Referendum erklärt. Doch gab die Wahl keine eindeutige Antwort auf den Streit der letzten drei Jahre seit dem Brexit-Referendum 2016. Das Land zeigt sich weiterhin gespalten. Die Brexit-Partei konnte zwar mit Abstand als stärkste Partei aus der Wahl hervorgehen, doch gab das Ergebnis eine knappe Mehrheit für den Verbleib in der Europäischen Union ab.

Europawahl: Wegweiser in die Zukunft - Bild: Durch ein Loch in der europäischen Flagge scheint der Union Jack

Die Ergebnisse sind wegweisend für die kommenden Monate im Kampf um den Brexit und auch um die zukünftige Führungsspitze der Conservative Partei. Und das, obwohl noch-Premierministerin Theresa May mit allen Mitteln versuchte, die Beteiligung der Brit/innen an der Europawahl zu verhindern und obwohl der offizielle Wahlkampf der britischen Kandidat/innen – wenn überhaupt – nur weniger als drei Wochen vor der Wahl begann.

Eine Wahl um die Zukunft der Brit/innen in der EU

Die neugegründete Brexit-Partei des Parteivorsitzenden Nigel Farage geht mit 31% als Parteisiegerin aus der Wahl hervor und wird mit 29 Sitzen als größte nationale Partei ins europäische Parlament einziehen. Allerdings konnte die Brexit-Partei nur wenige Prozentpunkte mehr erreichen als die UKIP-Partei (United Kingdom Independence Party) 2014, welche 2014 als erste klar anti-europäische britische Partei ins Europäische Parlament einzog. Gemeinsam kommen die beiden antieuropäischen Parteien auf insgesamt 34,9%.

Gleichzeitig fuhren diejenigen Parteien, die sich klar gegen den Brexit positionierten, große Gewinne ein: Gemeinsam erreichten sie 40,4% und 27 Sitze. Hierbei konnten die Liberal Democrats den größten Erfolg erzielen, welche ihren Parteislogan unmissverständlich „Stop Brexit“ und trotz unbeholfener britischer Natur „Bollocks to Brexit“ tauften. Viele Remainer konnten sich hinter den Liberal Democrats als pro-europäische Partei vereinen. Sie gewannen insgesamt 20,3% und 16 Sitze, mit einem Zugewinn von über 13%. Ebenso gestärkt gehen die grünen Parteien aus der europäischen Wahl hervor. Gemeinsam mit der grünnahen Partei Plaid Cymru aus Wales, sowie der Scottish National Party werden die britischen Grünen erstmals mit insgesamt 11 Abgeordneten zur Grünen Fraktion im Europäischen Parlament hinzustoßen.

Ein deutliches Zeichen gegen die traditionellen Parteien

Die etablierten Parteien des nationalen Mehrheitswahlsystems, Labour und Conservatives, sind die großen Verlierer des Wahlabends am 26. Mai. Sie sind diejenigen Parteien, die sich im eindimensionalen Wahlkampf um den Brexit nicht eindeutig positionieren konnten. Sie sind auch diejenigen Parteien, die es in den letzten drei Jahren nicht geschafft haben, einen parteiübergreifenden Kompromiss zu finden, der das Land vereint, anstatt es weiter in den Stillstand zu treiben. So schaffte es die Conservative Partei von Theresa May gerade mal auf nationale 8,7%, das schlechteste Ergebnis seit der Parteigründung im Jahr 1834. Sie landeten auf dem fünften Platz, 3% hinter den Grünen. Sie werden mit nur 4 Abgeordneten im Europäischen Parlament vertreten sein. Nur einen Tag nach der Wahl im Vereinigten Königreich und noch bevor der Veröffentlichung der Ergebnisse kündigte May ihren Rücktritt am 7. Juni an – und läutete damit den Machtkampf in der Partei um ihre Nachfolge ein.

Ebenso wurde die Labour-Partei, und insbesondere der Parteivorsitzende Jeremy Corbyn, mit nur 14% für seine unklare Haltung gegenüber dem Brexit und einem zweiten Referendum abgestraft. In Jeremy Corbyn’s eigenem Wahlkreis in London verlor die Labour Party ihren ersten Platz gegen die Liberalen. Während viele der Labour Abgeordneten in Westminster gefordert hatten, ein zweites Referendum zu unterstützen, räumte Jeremy Corbyn erst nach den Ergebnissen am Sonntag ein, dass die Brit/innen in einem Referendum über das Brexit-Abkommen, so es denn zustande kommt, befragt werden müssten.

Die Wahl wurde lokal und global entschieden

Auch wenn die nationalen Ergebnisse im Vereinigten Königreich den Trend einer aufbrechenden britischen Parteienlandschaft bestätigen, gibt es große Unterschiede in den regionalen Ergebnissen der 12 Wahlkreise. Die Brexit Partei konnte insbesondere in den ländlichen Gebieten Nord- und Mittelenglands zulegen, die traditionell konservativ geprägt sind und sich 2016 mit einer hohen Zustimmung für den Brexit aussprachen.

Es ist ein überaus passendes und auch symbolträchtiges Ergebnis, dass vier der neuen grünen Abgeordneten aus diesen Wahlkreisen stammen und auch die grünnahe Partei Plaid Cymru im pro-Brexit geprägten Wales einen Listenplatz erringen konnte. In den jungen Städten Bristol und Brighton gewannen die Grünen eine Mehrheit der Stimmen und gingen insbesondere im Südwesten mit 18% als große Gewinner aus der Wahl hervor. Mit einer klaren Position im Wahlkampf („Ja zu Europa. Nein zum Klimawandel“) trugen die britischen Grünen zu der westeuropäischen „Grünen Welle“ bei, die das Gestalten einer pro-europäischen, offenen Gesellschaft und den Kampf gegen den Klimawandel an erste Stelle rückt.

Nationale Interessen in Schottland und Nordirland

Die sezessionistische Scottish National Party (SNP) kam mit einer eindeutigen Haltung gegen den Brexit auf 38% der Stimmen in Schottland und stellt die Hälfte der schottischen Abgeordneten im europäischen Parlament. Anlässlich ihres Wahlergebnisses und der weiterhin unklaren Brexit-Entwicklungen in Westminster hatte die SNP erst am vergangenen Mittwoch, dem 29. Mai 2019, einen Gesetzesvorschlag eingereicht, welcher den Weg für ein zweites schottisches Unabhängigkeitsreferendum und für einen Verbleib des Landes in der EU im Falle eines Brexit ermöglichen soll.

Auch Nordirland sorgte am Wahlabend für Überraschungen. Zum ersten Mal schaffte es die Alliance Partei ins Europäische Parlament – eine Partei, die sich für eine gemeinsame nordirische Gesellschaft einsetzt und die religiösen und politischen Spaltungen zu überwinden versucht.  Sie identifiziert sich weder als nationalistisch und pro-irisch (wie die linke Partei Sinn Féin) noch als unionistisch und pro-UK (wie die Democratic Unionist Party) und ordnet sich keiner Konfession zu. In Anbetracht des Streits um Nordirland und den Backstop an der irisch-nordirischen Grenze bei den Brexit-Verhandlungen setzt die neue Alliance Abgeordnete ein klares Zeichen gegen die Spaltung des Landes. Mit Sinn Féin und der Alliance Party stehen auch aus Nordirland zwei der drei Abgeordneten für einen Verbleib in der Europäischen Union und für ein zweites Referendum.

Eine unsichtbare Kampagne

Trotz des Einflusses, den die insgesamt 73 britischen Abgeordneten im Europäischen Parlament mindestens bis zum 31. Oktober 2019 haben könnten, gab es in der Wahldebatte vor und nach den europäischen Wahlen eigentlich nur ein Thema: den Brexit. Es gab keine großen Wahlveranstaltungen, keine Duelle, keinen passionierten Haustürwahlkampf im Vereinigten Königreich, und auch nicht in der Hauptstadt London.

Zum einen nahm die kurzfristige Ankündigung der Wahl vielen Parteien die Möglichkeit für eine umfangreiche Kampagne. Zum anderen erschwerte die Anzahl der kleineren Parteien, welche sich gegen den Brexit positionierten, eine vereinte Stimme gegen den Brexit. Während die Brexit-Partei für viele Wähler/innen, die sich klar für einen schnellen Austritt aus der Europäischen Union aussprechen, die einzige wählbare Partei darstellte, konnten Remainer zwischen den Grünen, Liberalen, sowie der neu gegründeten zentristischen Partei Change UK wählen.

Die Aktivistin Gina Miller startete zwei Wochen vor der Wahl die Kampagne RemainUnited, welche versuchte, Remain-Wähler/innen zu koordinieren, um durch taktisches Wahlverhalten möglichst viele Remainer-Abgeordnete ins Europäische Parlament zu wählen. Die Partei Change UK hatte nur wenige Tage vor der Wahl noch einen internen Parteistreit ausgelöst, als sich die derzeitige Vorsitzende für eine taktische Wahl der Remainer zugunsten der Liberal Democrats aussprach. Doch trotz des hohen taktischen Wahlverhaltens konnte die Brexit-Partei mit 31% der Stimmen einen überproportionalen Sitzanteil von 40% erlangen.

Nur leicht erhöhte Wahlbeteiligung

Nur wenig mehr als ein Drittel der britischen Wahlberechtigten beteiligten sich an der Wahl. Dennoch erhöhte sich die Wahlbeteiligung leicht von 35,6% auf 37%. Diese Zahl ähnelt der Wahlbeteiligung der Brit/innen in Kommunalwahlen – und spiegelt eine generell geringere Wahlbeteiligung wieder, welche auch auf das britische Mehrheitswahlsystem zurückzuführen ist.

Tausenden britischen und europäischen Bürger/innen wurde die Stimmabgabe für die britische Wahl untersagt, weil die Wahlkommission und die lokalen Behörden die Registrierung von Wähler/innen und die Versendung von Briefwahlunterlagen nicht rechtzeitig bearbeiteten. Am Wahltag des 23. Mai 2019 twitterten mehr als 100.000 Menschen über den Hashtag #DeniedMyVote über die Verweigerung des Stimmrechts. Viele dieser Wähler/innen sehen ihre Rechte und Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union im Falle eines harten Brexit gefährdet. Die pro-europäischen Organisationen the3million und British in Europe, welche sich für die Rechte von Europäer/innen im Vereinigten Königreich und von Brit/innen in Europa einsetzen, versuchen nun, rechtlich gegen die britische Regierung vorzugehen.

Zurück zum Brexit-Machtkampf

Trotz der mageren Debatte über die Ergebnisse der europäischen Wahl sind unmittelbare Konsequenzen aufgrund der schlechten Ergebnisse in der Conservative Partei zu spüren. Derzeit richten sich alle Blicke auf die Nachfolge von Theresa May nach dem 7. Juni. Inzwischen haben sich 11 Abgeordnete als Kandidat/innen aufstellen lassen – viele davon aus May’s eigenem Kabinett. Nach dem Erfolg der Brexit-Partei wenden sich diese nun einem internen Wettkampf zu, in welchem es darum gehen wird, welche Kandidatin oder welcher Kandidat die härteste und radikalste Brexit-Politik verspricht. Ironischerweise würde jedoch ein solcher, harter Brexit im britischen Parlament keine Mehrheit und damit keine Lösung zur aktuellen politischen Blockade finden. Umso mehr wächst der Druck auf die Tory Partei, einen parteiinternen Kompromiss zu finden. Denn bei einer aktuellen Neuwahl würden die Tories laut YouGov so viele Stimmen an die Liberal Democrats verlieren, dass sie keinen Premierminister oder keine Premierministerin mehr stellen könnten.

Die Zeit ist knapp. Nach der Wahl für Theresa May’s Nachfolge und der Sommerpause im Unterhaus bleiben dem Vereinigten Königreich gerade mal zwei Monate, um einen neuen Kompromiss im Parlament zu finden. Die europäische Wahl zeigt, dass das Land weiterhin mehr denn je um die Brexit-Frage gespalten ist. Aber sie zeigt auch, dass Parteien wie die Liberal Democrats und die grünen Parteien Britinnen und Briten mobilisieren konnten, wenn es um die Frage des Brexit geht.